Frankfurt
Niclaus Gerhaert. Der Bildhauer des Mittelalters
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Ausstellung27.10.2011 - 04.10.2012
Niclaus Gerhaerts Skulpturen vermitteln heute noch eindrücklich ihre innovative Qualität und künstlerische Kraft und lassen erkennen, warum der Bildhauer von so nachhaltiger Bedeutung war. Durch die handwerkliche Virtuosität der Ausführung, die Originalität der formalen Lösungen sowie die enorm räumliche Wirkung der Skulpturen, besonders aber die überraschende Lebendigkeit und berührende Lebensnähe der Figuren setzte er neue Maßstäbe. Die starke Zerklüftung der bearbeiteten Stein- oder Holzblöcke, die Forcierung von Durchbrüchen und Hinterschneidungen sowie der weitgehende Verzicht auf Anstückungen steigerte die konventionelle Bildhauertechnik ins hochgradig Virtuose. Nicht weniger charakteristisch für Niclaus Gerhaerts Arbeiten sind das eingehende Naturstudium und die getreue Wiedergabe zahlreicher Einzelheiten, wobei eine gewisse Nachlässigkeit in der Detailausarbeitung und der Behandlung der meisten Steinoberflächen, die mit einer sichtlich expressiv impulsiven Ausführung verbunden ist, für eine ganz eigene und für die Zeit ungewöhnlich spontane Wirkung sorgt. Vermutlich konnte Gerhaert dank eines gut eingespielten und erstklassigen Werkstattteams stets unter so guten Bedingungen arbeiten, dass es ihm möglich war, mehrere größere Aufträge parallel auszuführen und unkonventionelle künstlerische wie technische Lösungen zu entwickeln.
Das Liebieghaus besitzt mit der „Bärbel von Ottenheim“ neben dem Musée de l’Œuvre Notre-Dame in Straßburg und dem Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseum in Trier als nur eines von drei Museen weltweit ein gesichertes Werk des Bildhauers. Bei der sogenannten „Bärbel von Ottenheim“ handelt es sich eigentlich um den Kopf einer Sibylle, einer antiken Seherin, von deren Büste nur das Frankfurter Fragment erhalten blieb. Deren Pendant, heute im Musée de l’Œuvre Notre-Dame in Straßburg, bildete ein bärtiger Prophet, der schon im 16. Jahrhundert mit dem Stadtvogt Jakob von Lichtenberg identifiziert wurde, dessen Mätresse Bärbel von Ottenheim war. Dieser Kopf wurde im Zuge der Ausstellungsvor- bereitung von alten Anstrichen befreit und gibt sich nun als eines der grandiosesten Werke Gerhaerts zu erkennen. Beide Stücke stammen von dem 1463 datierten Portal der zerstörten alten Kanzlei in Straßburg, für die Niclaus Gerhaert den Figurenschmuck lieferte. Neu und überraschend waren die Bewegtheit der Büsten, die aus Scheinfenstern blickten, ihre große Lebendigkeit und psychologische Durchdringung. Erstmals seit ihrer Trennung im 19. Jahrhundert werden diese beiden grandiosen Köpfe in der Ausstellung wieder zusammen zu sehen sein.
Ein weiteres zentrales Werk kommt ebenfalls aus dem Straßburger Musée de l’Œuvre Notre-Dame: das vermeintliche Selbstbildnis des Künstlers, auch dies eine Büste. Enorm räumlich konzipiert, zeigt das Werk einen bartlosen Mann, der sein Haupt in seine rechte Hand stützt; er scheint in Gedanken vertieft. Dem mittelalterlichen Menschen war das aus der Antike überlieferte Motiv des Kopfaufstützens als melancholische Geste wohlvertraut. Aus der Kopfneigung und der Führung der Gliedmaßen ergibt sich ein spannungsreiches räumliches Gefüge, dessen Erscheinungsbild in seiner sich fast strudelartig entwickelnden Dynamik kaum gegensätzlicher zum dargestellten statischen Moment sein könnte.
Zu den Höhepunkten der Ausstellung zählen zudem zwei Gerhaert zugeschriebene, aufwendig geschnitzte, nahezu lebensgroße Holzskulpturen – der heilige Georg und die heilige Maria Magdalena – von dem 1462 datierten Nördlinger Hochaltar der spätgotischen Kirche St. Georg in Nördlingen, die für die Frankfurter Ausstellung erstmals verliehen werden. Aufgrund der technologischen Untersuchung im Zuge der im Vorfeld der Ausstellung stattgefundenen Reinigung und Konservierung des Altars durch ein Restauratorenteam des Liebieghauses konnte nachgewiesen werden, dass die Nördlinger Figuren in einer Straßburger Werkstatt gefasst wurden und damit nicht, wie immer wieder vermutet, in Köln entstanden, sondern in der oberrheinischen Metropole. Damit lässt sich beweisen, dass Niclaus Gerhaert bereits vor 1463, seiner ersten archivalischen Nennung in Straßburg, dort tätig gewesen sein muss. Weitere bedeutende Leihgaben wie etwa die sogenannte Rothschild-Madonna, die Büsten einer heiligen Katharina und einer heiligen Barbara aus dem Metropolitan Museum of Art in New York sowie die zugehörige Büste der heiligen Margarete aus dem Art Institute of Chicago oder eine bislang kaum bekannte Johannesschüssel, eine Schale mit dem Haupt Johannes des Täufers, aus dem Museum im slowakischen Banská Bystrica und andere bedeutende Bildwerke ergänzen die erstmalige Zusammenschau der Arbeiten von Niclaus Gerhaert und seiner Werkstatt. Einige Werke werden in ihrem Verhältnis zu Niclaus Gerhaert neu diskutiert: etwa der kleine Christusknabe mit der Weintraube aus dem Bayerischen Nationalmuseum in München, eine Marienstatue aus dem Berliner Bode-Museum oder ein heiliger Adrian aus den Musées royaux d’Art et d’Histoire in Brüssel.
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