Wien
Egon Schiele Werke
Als Auftakt zum Gedenkjahr 2018 zeigt die Albertina bereits jetzt eine umfassende Ausstellung von Egon Schieles Werk. Sie positioniert sein radikales Œuvre in einer zwischen Moderne und Tradition gespaltenen Epoche. 160 seiner schönsten Gouachen und Zeichnungen führen in ein künstlerisches Werk ein, das sein großes Thema in der existenziellen Einsamkeit des Menschen findet und in drastischem Gegensatz zu den Wertvorstellungen der Gesellschaft des Fin de Siècle steht.
Während Schiele üblicherweise als Teil der künstlerischen und geistigen Elite der Wiener Jahrhundertwende von Mahler bis Schnitzler, von Freud bis Kraus, von Altenberg bis Hofmannsthal betrachtet wird, folgt die Inszenierung der Ausstellung in der Albertina einem anderen Prinzip: Große, im Raum schwebende Fotografien konfrontieren die radikalen Arbeiten des Künstlers mit der Realität seiner Umwelt. Sie bilden den realen Hintergrund, der die Fallhöhe zwischen dem Schaffen Schieles und der ihn umgebenden Gesellschaft verdeutlicht.
Der große Zeichner
Egon Schiele (1890–1918) ist nicht nur Wegbereiter und Hauptmeister des österreichischen Expressionismus und neben Klimt eine der Schlüsselfiguren der Wiener Jahrhundertwende, er ist vor allem auch der größte Zeichner des 20. Jahrhunderts. Nach seinem Studium an der Akademie, das den strengen Vorschriften des dortigen Lehrbetriebs folgt, wendet sich der junge Künstler zunächst dem Jugendstil zu. Sein Vorbild findet er in Gustav Klimt. Doch im Gegensatz zu Klimt, dessen Zeichnungen als Ideen, Entwürfe oder Skizzen für seine Gemälde dienen, betrachtet Egon Schiele seine Arbeiten auf Papier bald als autonome Kunstwerke. Um 1910 findet er als kaum Zwanzigjähriger zu einem unverwechselbaren, eigenen Stil – und dies vor allem in seiner Zeichenkunst.
In der Zeichnung, im Aquarell und der Gouache beschreitet der Künstler neue Wege: Mit sicherer, kräftiger Linienführung erfasst er seinen Bildgegenstand, der meist der menschliche Körper ist. Einerseits charakterisiert er ihn durch treffsichere Konturierung, andererseits verfremdet er ihn durch gewagte Perspektiven und überspitzte Gestik und Mimik. Gerade in seinen präzise kalkulierten Zeichnungen erschließt Schiele in Bezug auf Ikonografie und Farbgebung neues Terrain. Nicht zufällig wird das zeichnerische Œuvre des Künstlers als seiner Malerei mindestens ebenbürtig geschätzt – der Zeichner Schiele ist dem Maler Schiele sogar weit überlegen. Als Zeichner wird er in weiterer Folge zum großen Vorbild für viele KünstlerInnen unserer Zeit.
Tabubruch als Prinzip
Egon Schieles Darstellungen ausgezehrter Körper zeigen eine damals wie heute radikale Ästhetik des Hässlichen. Diese widerspricht dem Schönheitsideal der Secession um Gustav Klimt. Der junge Schiele hebt die Gegensätze zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Normalen und dem Pathologischen auf. Seine ProtagonistInnen stehen symbolhaft für die Entfremdung des Menschen von der bürgerlichen Gesellschaft und der Kirche. Sie verkörpern eine Allegorie der Heimatlosigkeit des modernen Individuums – das Ablegen falscher Scham wird dabei als Tabubruch zum ästhetischen Prinzip.
Schiele als Ethiker und Moralist
Um einen neuen Zugang zur Entschlüsselung des oft so rätselhaft-allegorischen Werks Schieles zu finden, veranschaulicht die Ausstellung in der Albertina die vielfältigen Inspirationsquellen des Künstlers. Erstmals wird eine ikonografisch bisher nicht identifizierte Bildgruppe intensiv beleuchtet: Die sogenannten Allegorischen Werke. Neue Forschungen haben ergeben, dass Schiele sich in diesen Bildern mit dem Armutsideal von Franz von Assisi und den „Spiritualen“ des 13. Jahrhunderts auseinandersetzt. Die Anhänger dieser Bewegung sollten entbehrungsreiche Armut mit seelsorgerischer Tätigkeit vereinen.
Zwischen 1912 und 1918 schuf Egon Schiele eine Reihe von Werken, die Männer in ärmlichem Gewand zeigen, mit pathetischen Titeln wie Erlösung, Andacht oder Die Wahrheit wurde enthüllt. Mit der motivischen wie inhaltlichen Anlehnung an das Armutsideal von Franz von Assisi hebt sich der junge Künstler einmal mehr vom Materialismus ab, den die Elite des Wiener Fin de Siècle um Gustav Klimt und die Wiener Werkstätte repräsentiert. Schieles Kunst ist dabei allerdings nicht das Abbild seiner persönlichen Befindlichkeit, sondern erhebt vielmehr einen hohen moralischen Anspruch: Schiele erweist sich nicht nur als Künstler von größtmöglicher Freiheit und ästhetischer Autonomie, sondern zugleich auch als Verfechter hoher Ethik und leidenschaftlicher Spiritualität.
Im Kontext von seinen hohen Moralvorstellungen ist auch die berühmte V-Geste, die erstmals in seinem Selbstbildnis mit Pfauenweste zu sehen ist, zu deuten. Das Handzeichen zitiert das berühmte byzantinische Pantokrator-Mosaik der Chora-Kirche in Konstantinopel. Nicht nur in dieser Geste, auch im Lichtkranz, der den Kopf des Künstlers heiligt, inszeniert sich Egon Schiele performativ als Auserwählter von hohem Rang. Die wirre Frisur und der Blick von oben herab lässt das selbstbewusste Genie erkennen, das der Welt das Heil bringt: ein verweltlichter Christus als Herrscher, ein Künstler als Schöpfer und Messias. So wird ein wesentlicher Aspekt byzantinischer Ikonografie zu einer zeitgenössischen Geste uminterpretiert und expressionistisch übersetzt.
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