Gegenwartkunst
GOYAS ERBEN
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Ausstellung10.10.2012 - 27.12.2013
Gegenwartskünstler beziehen sich in ihren Arbeiten vermehrt auf die jüngere und ältere Kunstgeschichte. Insbesondere das Werk des spanischen Malers Francisco de Goya (1746–1828) wird in den letzten Jahren neu entdeckt. Woran liegt das?
Die Gründe sind vielschichtig. Zur Visualisierung werden fünf Künstlerinnen und Künstler und ein Künstlerduo mit rund 200 Zeichnungen, Grafiken und Objekten vorgestellt: Jake und Dinos Chapman (*1966 in Cheltenham, *1962 in London), Marcel Dzama (*1974 in Winnipeg), Michael Pfrommer (*1972 in Leonberg), Gitte Schäfer (*1972 in Stuttgart), Cornelia Renz (*1966 in Kaufbeuren), Nadin Maria Rüfenacht (*1980 in Burgdorf) setzen sich mit dem künstlerischen Erbe von Francisco de Goya auf unterschiedliche Art auseinander.
Da die Bezüge nicht immer vordergründig sind, ist der Ausstellungsparcours in zwei Ebenen unterteilt. Diese Gruppierung verfolgt auch das Ziel, Besucherinnen und Besucher die Möglichkeit zu geben, nur auf einer Etage verweilen zu können. Im Erdgeschoss bildet der Goya-Zyklus Los Caprichos (Die Launen, 1793–1799) den Ausgangspunkt. Hier werden Werke von Michael Pfrommer, Gitte Schäfer und Nadin Maria Rüfenacht gezeigt, die ähnlich wie Goya in den Caprichos Vertrautes in Frage stellen. Im ersten Stock werden neben der Serie der Desastres de la Guerra (Die Schrecken des Krieges, 1810–1820) von Goya Werke von Jake und Dinos Chapman, Marcel Dzama und Cornelia Renz ausgestellt. Auf dieser Etage befinden sich, von Goyas Zyklus ausgehend, drastischere Bildfindungen, die auch schockieren können. Vorausgeschickt sei, dass der Dimension der Ironie in der heutigen Kunst eine wichtige Rolle zukommt. Ironie wird stets als „etwas in Frage stellen“ begriffen. Die Künstlerinnen und Künstler „befragen“ Goyas Motive und beziehen aktuelle Bezüge mit ein.
Die Eingangswand mit den Caprichos von Goya kann wie ein Modul verstanden werden, das in zyklisches und sprunghaftes Formendenken einführt. Goya selbst hatte die Abfolge der Caprichos verändert und schließlich, wie hier ausgestellt, festgelegt. Seine Launen entstanden ohne Auftrag und bilden bis heute ein Schlüsselwerk zum Verständnis seiner eindringlichen Bildwelt. Immer wieder war Goya während der Auseinandersetzungen zwischen der aufgeklärten, an den Idealen der Französischen Revolution orientierten Politik und den alten, von der Inquisition gestützten Machtverhältnissen in Spanien in Zwiespälte geraten. Symphatisierend mit dem Gedanken der Aufklärung, dem Streben nach individueller Freiheit und sozialem Fortschritt, erkannte Goya Missstände wie Angstpädagogik, Armut, unterdrückende Sexualität und Prostitution bis hin zum überlebten Standesbewusstsein des Adels und kritisierte diese zum Teil bitterböse. Goya wollte aufrütteln und schuf Darstellungen, um Augen zu öffnen und Sinne zu schärfen. Die auf den ersten Blick alltäglich wirkenden Szenen entpuppen sich bei näherer Betrachtung als rätselhaft und mehrdeutig. Phantasiebilder gesellen sich zu moralisierenden Darstellungen, heitere bis düstere Wirkungen stellen sich ein. Goya lenkt den Blick des Betrachters, erhöht Intensitäten und spielt mit der Wahrnehmung der Schauenden immer wieder aufs Neue. Er denkt die Vorstellungskraft des Betrachtenden quasi mit.
Auch den hier vorgestellten Künstlerinnen und Künstlern geht es um den Blick des Betrachters auf die Kunst und auf die Objekte der Begierde. Verschiedene Ebenen überlagern sich in den Kunstwerken, die Schicht für Schicht gelesen werden können. Alltägliches wird ebenso in die Kunst überführt, wie Geheimnisvolles und Unterbewusstes thematisiert wird. Goya selbst begann, die Grenzen zwischen Realem und Traumhaftem in den Caprichos zu verwischen. Vielfältige Variationen von Monstern und Phantasmen entstanden. Figuren wurden zu Hybriden. Ähnlich collagiert Rüfenacht bizarre, teils dämonische, teils verträumte Mischwesen. Das Nebeneinander von Ungleichem wirkt auch bei Schäfer fremd, kurios und unheimlich. Bei Pfrommer ist es nicht nur das Einzelbild, das Wirklichkeit und Traum, Natürliches und Übernatürliches thematisiert. Er verdichtet seine Bildwelten, indem er Nachbarschaften und Abfolgen schafft. Zum ersten Mal zeigt Pfrommer die 2005 mit nicht-dominanter Hand abgemalten Capricho-Blätter.
Obwohl Goya nur wenige Kriegsereignisse erlebt hatte, haben ihn die Geschehnisse des napoleonischen Feldzuges zu einigen seiner stärksten Bilderfindungen herausgefordert. Seine in dem Desastres-Zyklus beschriebenen barbarischen Grausamkeiten beschäftigen die Kunst bis heute. Auch die Chapman-Brüder, Dzama und Renz beziehen sich auf Goya und weigern sich, die uns vertrauten Muster von Gut und Böse zu übernehmen. Goya distanzierte sich in den Desastres von den Ausschreitungen beider Seiten und trat für die Opfer gegen die Täter ein. Goyas Vorliebe für Rollentausch – Opfer werden Täter, Täter werden Opfer – ist ebenso Thema der ausgestellten Künstlerinnen und Künstler. Besonders Dzama und Renz stellen gewohnte Zuschreibungen in Frage, wobei stets mit neuen Konstellationen und Verknüpfungen experimentiert wird.
Stereotypen von Soldaten sind weiter auffällig: Maskiert mit Sturmhauben und bewaffnet mit Kalaschnikows treten die Protagonisten bei Dzama zum Kampf an, anmutig und schockierend zugleich. Heftige Reaktionen lösten vor einigen Jahren die Chapman-Brüder aus, als sie Goyas Grafik-Zyklus Los Desastres de la Guerra übermalten. Neben ihrem Werk mit teils karikierenden Fratzen zeigt Renz radikale Versuche, Goya in die Gegenwart zu transformieren. Die abgründigen Seiten menschlichen Verhaltens visualisiert sie mit Vorlagen aus nur bedingt öffentlich zur Schau gestellten Bildern.
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