Schirn Kunsthalle
Privat
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Ausstellung01.11.2012 - 03.02.2013
Die Ausstellung „Privat“ interessiert sich für die unterschiedlichen Wege, die von der Keimzelle der Privatheit im 19. Jahrhundert in die transparente Post-Privacy von heute führen. Einst waren die Bilder des Privaten eine Sache der Amateure. Mit diesem sozialen Gebrauch von Fotografie setzen sich Künstler noch heute auseinander und integrieren die private Bildproduktion in ihre Werke. So vereint Fiona Tan in ihrer Serie Vox Populi (2004–2012) Schnappschüsse aus unter- schiedlichen Ländern zu großen Tableaus. Auch Jörg Sasse wirft einen forschenden Blick auf den Fundus kollektiver Archive. Neben der individuellen Zusammenstellung sabotiert er den Dokumentationscharakter der Fotografien, indem er sie einer digitalen Bearbeitung unterzieht.
Ab den 1960er-Jahren verlassen die Bilder des Privaten verstärkt diesen geschlossenen Kontext; Künstler setzen der geistigen Enge des biedermeierlichen kleinen Glücks der 1950er-Jahre offensiv Filme und Fotografien ihrer eigenen alternativen Lebensmodelle entgegen. Eine neue Generation stellt alte Verhaltenscodes in Frage, wehrt sich gegen bestehende Regeln – auch künstlerisch und ästhetisch. Körperpolitik, Genderfragen, neue Formen des Zusammenlebens werden in der Kunst zum zentralen Thema. 1959 dreht Stan Brakhage, der große Pionier des Experimentalfilms aus den USA, den Film Window, Water, Baby, Moving, in dem er – wohl eine Premiere in der Filmgeschichte – die Geburt seines Kindes dokumentiert. Für sein Video Sleep (1963) filmt Andy Warhol seinen damaligen Liebhaber, den Beatpoeten John Giorno, über fünf Stunden lang schlafend – der Betrachter ist unmittelbar dabei im Leben Andy Warhols, im Schlaf- zimmer seines Liebhabers. Mit obsessiver Aufzeichnungswut präsentiert sich der französische Avantgardefilmer Michel Auder in Keeping Busy (1969) – seinem „it’s life movie“ – im Zentrum bohemienhaften Lebens der 1960er-Jahre.
Jene rebellierende Generation bricht vor allem auch mit der traditionellen Familie, der am Heim orientierten Konsumhaltung, der auf die Ehe fixierten Sexualität und den konventionellen Ge- schlechterrollen. Mark Morrisroe zeigt intime Situationen seines schwul-hedonistischen Lebens in der Punkszene von Boston und New York. Dem traditionellen Modell der bürgerlichen Familie hält auch Nan Goldin ihre eigene Wahrheit entgegen. Goldin dokumentiert ihr eigenes Leben sowie das ihrer Freunde und präsentiert diese fotografischen Biographeme in umfangreichen Serien. Notation, Dokumentation, Authentizität und scheinbar amateurhaft aufgezeichnete Privat- heit lassen sich auch bei Ryan McGinley oder den Polaroids des früh verstorbenen Dash Snow erkennen. Tracey Emin stellte 1999 ihr gesamtes Bett inklusive schmutziger Bettwäsche, ge- brauchter Stumpfhose und Kondomen aus, und Sophie Calle hinterfragt die bürgerliche Familie in Wahre Geschichten (2004), indem sie von fingierten Hochzeiten, vorenthaltenen Liebesbriefen oder dem Streit mit dem Geliebten erzählt.
Auch die dysfunktionale Familie wird zu einem Thema, mit dem sich Künstler intensiv auseinan- dersetzen. Intime Binnenansichten erzählen von Familien, die jenseits des Idyllischen existieren. Häufig handelt es sich dabei um Zeugnisse eines Bewältigungs- und Distanzierungsprozesses. Richard Billingham präsentiert in seiner Serie Ray’s a Laugh (1989–1996) das Elend seines Elternhauses in einem Sozialbau von Birmingham, indem er seinen Vater Ray und seine Mutter Liz in ihrem von Alkohol und Eintönigkeit geprägten Alltag fotografisch festhält. Auch Marilyn Minter porträtierte in ihrem Portfolio Coral Ridge Towers (1969) die eigene Mutter, die das Haus praktisch nie verließ und deren Leben sich im Bett abspielte. Zwischen Schock und einfühlsamer Darstellung oszillieren die Bilder, die Leigh Ledare von seiner Mutter Tina Peterson aufnimmt und zu komplexen psychologischen Tableaus vereint. Bilder aus Tinas besseren Tagen als Modell und Tänzerin, handgeschriebene Listen und Notizen des Sohnes, die das Verhältnis zu seiner Mutter auf einer Ebene jenseits des Bildes weiter ausführen, verbinden sich hier mit dem offenen Tabubruch, die eigene Mutter sehr explizit beim Sex mit jüngeren Liebhabern zu fotografieren. Aus diesem Mosaik ergibt sich ein vielschichtiges Porträt, welches erahnen lässt, dass sich bei Weitem nicht alle Untiefen über die Oberfläche eines Bildes transportieren lassen.
Im Rahmen der Ausstellung präsentieren Leo Gabin und Edgar Leciejewski außerdem speziell für das Online-Magazin der Schirn konzipierte Kunstprojekte. Wöchentlich werden die drei Künst- ler des belgischen Kollektivs Leo Gabin auf dem Schirn-Mag Videoclips vorstellen, die das Aus- gangsmaterial für eine neue Arbeit bilden. Vom YouTube-Ausschnitt bis zum fertigen Video kann die Öffentlichkeit auf diese Weise am Entstehungsprozess einer neuen Arbeit teilhaben. Edgar Leciejewski wird öffentlich Tagebuch führen, indem er den Lesern jeden Tag ein Foto aus seinem Alltag mit Orts- und Zeitangabe präsentiert. Damit erfährt „Privat“ über den klassischen Ausstel- lungsraum hinaus eine Erweiterung ins Netz.
KÜNSTLER: Ai Weiwei, Merry Alpern, Michel Auder, Evan Baden, Richard Billingham, Mike Bouchet, Stan Brakhage, Sophie Calle, Tracey Emin, Hans-Peter Feldmann, Leo Gabin, Nan Goldin, Christian Jankowski, Jenny Michel und Michael Höpfel, Birgit Jürgenssen, Edgar Leciejewski, Leigh Ledare, Christian Marclay, Ryan McGinley, Marilyn Minter, Gabriel de la Mora, Mark Morrisroe, Laurel Nakadate, Peter Piller, Jörg Sasse, Dash Snow, Fiona Tan, Mark Wallin- ger, Andy Warhol, Michael Wolf, Kōhei Yoshiyuki, Akram Zaatari
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